Das Koçgiri Massaker

 

Schriftliche Ausarbeitung des Vortrages anlässlich der Gedenkveranstaltung des „Koçgiri Massakers 1921“ am 07.03.2015 in Wuppertal.

 

Isyancilar

[Levent Mete] Bevor man sich Gedanken darüber macht, was Gedenken und Erinnerung sind, muss man wissen was für eine Bedeutung das „Gedächtnis“ hat. Was ist das Gedächtnis genau? Welche Bedeutung hat es für unser Leben und für das Menschsein an sich?

 

Betont werden muss zunächst, dass alle Informationen und Reize die unwichtig erscheinen und keine Gefühle auslösen, an uns vorbeirauschen. Sie hinterlassen keine Spuren. Allein was auf- und anregt hinterlässt Spuren und ist „würdig“ ins Langzeitgedächtnis zu wandern.

 

Doch das Langzeitgedächtnis besteht nicht aus simplen abgespeicherten Informationen bzw. Sequenzen von Abläufen. Es sind Erinnerungen. Wenn wir uns an etwas erinnern, so aktivieren wir nicht nur unser Langzeitgedächtnis, um bloße Informationen abzurufen. Jede Erinnerung löst Gefühle aus und hat den Sinn, uns in der Gegenwart eine Zukunft zu ermöglichen. Es gibt Menschen, die durch Unfälle diese Fähigkeit verloren haben. Sie können ab einem bestimmten Zeitpunkt ihres Lebens nichts mehr abspeichern. Sie haben dadurch auch keine Zukunft, weil sie alles nach 2 Minuten wieder vergessen haben. Unser Gedächtnis ist unsere Zukunft und genau deswegen, soll es hier nicht um bloßes Abspulen von Fakten aus der damaligen Zeit gehen und auch nicht um die Bestärkung einer Opferrolle. Es scheint, als ob wir Aleviten eine in Nebel gehüllte Zukunft haben, da unser Gedächtnis nicht vollständig ist. Vieles fehlt und vieles wurde uns von anderen eingepflanzt, so dass wir uns einbilden, eigene Erinnerungen zu haben.

Gedenkveranstaltungen wie diese sind sehr wichtig, wenn wir eine gemeinsame Zukunft formen wollen. Denn was wir jetzt als Erinnerung pflegen, wird auch unser Verhalten, unser Fühlen, unser Handeln und unsere Orientierung beeinflussen. So stiften wir heute durch dieses gemeinsame Erinnern eine Gemeinschaft, die eine neue Zukunft bekommen soll. Und dies geht auch nur mit aktiver Auseinandersetzung und Aufarbeitung mit der eigenen Geschichte.

 

Als Aleviten ist es daher wichtig eine Erinnerungskultur zu pflegen. Das Gedächtnis der alevitischen Gemeinschaft muss sich also zwangläufig fragen: „Was dürfen wir nicht vergessen?“

„Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden, aber nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden.“ Søren Kierkegaard

Zunächst einige kurze Eckdaten zum Stamm der Koçgiri:

 

Laut eigenen Aussagen ist dieser große Stamm vor etwa 250 Jahren aus Khorassan nach Anatolien ausgewandert. Die erste Station Pülümür haben sie schnell Richtung Sivas verlassen. Rund 135 Dörfer gibt es und einige der ältesten Kerndörfer sind folgende: Karataş, Kevelli, Ağızger, Koyunkaya, Sıddıklar, Boğazveren, Karahüseyin, Görünmezkale, Gemecik.

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Um die Ereignisse auch besser zu verstehen muss man grob den historischen Rahmen etwas näher kennen. Wir haben es hier mit einem tief zerrütteten Land zu tun, das nach der Niederlage des Ersten Weltkrieges und der Machtübernahme der Jungtürken kurz davor war, komplett auseinander zu fallen und neu formiert zu werden. Das Osmanische Reich war nur noch ein Relikt und die Jungtürken wichen den ersten Strukturen der späteren türkischen Republik. Auf der Karte sieht man anhand der Beschlüsse des Vertrages von Sevres zum einen die Zerrissenheit und zum anderen die großen Chancen, die sich boten relativ gut. Das Koçgiri und Dersim Gebiet als rein alevitisch nichttürkisches Gebiete (man kann hier in Abgrenzung zu den türkischen Aleviten von indoiranisch sprachigen Aleviten reden, um kurmanci wie auch zazasprachige Aleviten treffend zu bezeichnen) befand sich in einem brisanten Gebiet.

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Wenn wir diese Karte mit der Verteilung der Aleviten in Anatolien betrachten, und das Gebiet Koçgiri-Dersim sehen, wird sehr schnell klar, was für ein gewaltiges Potential diese Region hatte. Denn die höchste Konzentration an indoiranisch sprachigen und stets staatlichen Strukturen distanzierte Aleviten waren das Dersim und Kocgiri Gebiet. Hätten diese sich verbunden und im Zuge der Turbulenzen sich um eine Nationenbildung bemüht, hätten die Türken ein großes Problem gehabt. Dieses Gebiet hatte also ein immenses Potential für eine Nation-Bildung gehabt. Diese Nation wäre dann höchstwahrscheinlich eine alevitische und von den türkischen Sunniten unabhängige Region gewesen. Und aufgrund des Glaubens hätten sie an Macht gewonnen und die restlichen Aleviten in ganz Anatolien mobilisieren können. Dieses Potenzial musste natürlich unterdrückt und zerstört werden.

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Zu dieser Problematik hat z.B. Cemal Gürsel, der in den 1960 Jahren Staatspräsident war, im Vorwort zu Mehmet Serif Firat´s Buch „Doğu Illeri ve Varto Tarihi“ (1961) ein Vorwort geschrieben:

„Alle türkischen Intellektuellen sollten eines wissen, dass die Kurdismus-Provokation feindlichen Quellen entspringt und durch Verletzung unserer nationalen Einheit uns vernichten will. Die Ostprovinzen sind Tore und Bastionen unseres Vaterlandes. Wenn wir es versäumen unseren Brüdern die Wahrheit nahezubringen und sie nicht aufklären, so werden sie gegen Propaganda der Feinde macht- und waffenlos sein. Wenn wir die Ostprovinzen verlieren, werden wir in Zentral-und Westanatolien auch verlieren. Diese Angelegenheit ist für das Vaterland der Türken, für die Zukunft des türkischen Volkes von großer Bedeutung und Wichtigkeit.“

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Man wusste natürlich schon sehr früh, dass es mit den indoiranischen Aleviten so gut wie keine Schnittmengen gab, um sie in den neuen türkischen Staat zu integrieren.

 

Daher wurden im Laufe der Geschichte die Aleviten dieser Region und die Kurden Opfer von zahlreichen Militäraktionen und „kollektiven Erziehungsmaßnahmen“ (Social Engineering. Türkisch: Toplum Mühendisliği)

Militäraktionen trugen auch immer folgende Etiketten:

Tedip = Strafen, züchtigen

Tenkil = Niederschlagung

İslahat = Zur Vernunft Bringen, Neugestalten

Die zu niederschlagenden, zu erziehenden wurden meist folgendermaßen benannt:

Asi = Aufständische, Rebellen

Şaki = Räuber, Bandit

Çapulcu = Räuber, Plünderer

Derebeyleri = Despoten, Tyrannen

Haydutlar = Banditen

Man unterstellte meist den Kurden und den Dersimer- und Koçgiri-Aleviten, dass sie durch Imperialisten aufgestachelt, sich gegen die Staatsordnung auflehnen und separatistische Ziele verfolgen (bölücü, ayrılıkçı, milli birliği bütünlüğü bozan / tehdit eden). Die Lösung sah man in militärischer Brutalität, welche man mit dem Wort „İmha“ (Vernichtung) sehr gut erahnen kann.

Ein Beispiel für das brutale Vorgehen gegen „Aufständische“ kann man u.a. aus den offiziellen Dokumenten des türkischen Militärs herauslesen:

Militärisches Anweisungen bzw. Taktiken bei Höhlen:

Man stecke den Eingang einer Höhle in Brand und observiere gegebenenfalls aus 1000 Meter Entfernung

Man umzingle die Höhle aus allen Seiten. Um die sich in den Höhlen versteckenden Banditen festzunehmen oder zu vernichten (imha etmek), nähere man sich vorsichtig an den Höhleneingang, um sich vor Beschuss zu schützen und werfe eine Bombe rein. Die aus der Höhle flüchtenden Banditen werden unter Maschinengewehrfeuer vernichtet. Die umzingelte Höhle sollte möglichst tagelang belagert werden, um die Banditen auszuhungern.

Quelle: Genelkurmay Belgelerinde Kürt İsyanları 3, Kaynak Yayınları, İstanbul 1992

 

Im Folgenden möchte ich den Koçgiri „Aufstand“ aus Sicht des türkischen Militärs und des Staates widergeben. Hierbei habe ich offizielle Dokumente des Genelkurmaylık (Quelle: Yedinci Askeri Tarih Seminer Bildirileri 1, Ankara Genelkurmay Basımevi 2000) genutzt und diese auf Deutsch übersetzt. Diese Inhalte werden unter anderem an Militärakademien unterrichtet und nehmen Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung in der Gesellschaft.

Der Koçgiri ‚Aufstand’ wird als das Resultat von gezielter Aufstachelung englischer Geheimdienstmitarbeiter angesehen. Als Beweis wird folgendes Ereignis dargestellt:

Als das 6. Regiment aus Sivas in Zara und Imranlı eintrifft, schickt das Regierungspräsidium von Sivas ein Telegramm an die Stammesführer und Geistliche, Ruhe zu bewahren. Die Antwort aus Koçgiri sei hier folgende gewesen:

„Die Armee führt seit geraumer Zeit Investigationen bezüglich der Anzahl von Muslimen und Nichtmuslimen in unserer Region durch. Diese Investigationen, bekräftigen die Annahme, dass eine Vernichtung der Kurden geplant ist. In Anbetracht des Gesetzes zur Selbstverteidigung ist die Haltung des Koçgiri Stammes folgerichtig.“

 

Aus Sicht der türkischen Administration

 

Am 03. April 1921 trifft die Zentralarmee ihre Vorbereitungen. Die Richtlinien und zu erreichenden Ziele sind folgende:

- Logistische Verbindungen mit Dersim müssen gekappt werden.

- Angriffe richten sich an die Organisatoren und Provokateure, Anführer und Sympathisanten des Aufstandes.

- Die Sympathie des Unbeteiligten Volkes muss gewonnen werden, um sie auf die Seite des Staates zu ziehen.

- Alle Waffen konfiszieren und so unschädlich machen, dass sie keinen Aufstand mehr durchführen können oder

- diesen Stamm Stück für Stück aus ihren Lebensräumen deportieren und im Land verteilen.

Hierbei werden im Rahmen des „Ümraniye Olayı“ folgende Eckdaten angegeben:

Die Zentralarmee (Merkez Ordusu) ist mit 3161 Soldaten und 1351 Tieren aufgestellt. Die „Rebellen“ (Asi im Original) werden auf 3000 Mann geschätzt.

Anzahl der Waffen:

Zentrale Armee: 2750 Gewehre, 3 schwere Maschinengewehre, 3 leichte Maschinengewehre und 13 Kanonen.

Die „Rebellen“: 2500 Gewehre

Beginn der Militäraktion: 11.04.1921

Die ersten Zusammenstöße werden auf den 13.04.1921 datiert und fanden in der Çakşur Gegend statt. Es wird betont, dass es hohe Verluste an „Rebellen“ gegeben haben soll und 500 festgenommen wurden. Bei den Festgenommenen handele es sich um Dersimer, die Alişir mit Gold von den Engländern im Auftrag von Alişan und Haydar gekauft haben soll.

Im Folgenden möchte ich aus offizieller Feder das erste Manöver aus den Quellen übersetzen:

In Refahiye / Erzincan: Das Giresun-Regiment und die Einheit in Kemah vereinigten sich und nahmen am 15.04.1921 Koçgiri ein. Die 27. Kavalleriebrigade kämpft entlang des Fırat. Die 14. Division nahm am Abend des 16.04. das Dorf Boğazveren, in dem Haydar und Alişan lebten ein (796 Schafe, 76 Rinder wurden konfisziert). Alişan´s Frau und Kinder wurden ergriffen. Zalim Çavuş und sein Bruder Mehmet wurden in Kangal ergriffen. Das Haus von Alişir wurde niedergebrannt. Imranli wurden wieder unter Kontrolle der Nationalverwaltung gebracht und der 1.Teil endete am 22.04.1921

Telegram von Nurettin Paşa: „Das Koçgiri-Manöver ist fast beendet. Bis jetzt wurde das Gebiet rund um den Firat Fluss, Erzincan, Imranli gesäubert. 500 Aufständische wurden getötet.“

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Dieses Ereignisse und die brutale Vorgehensweise der Truppen führte im TBMM (Türkiye Büyük Millet Meclisi - Große Nationalversammlung der Türkei), dessen Vorsitzender zu der damaligen Zeit Mustafa Kemal Paşa war, zu heftigen Diskussionen. Als nämlich Nurettin Paşa vorschlug, zur Festigung der Autorität in der Region eine weitere und härtere Militäraktion durchzuführen, stellten sich einige Abgeordnete dagegen. Am 03.Oktober 1921 reichen der Abgeordnete von Erzincan Emin Bey und seine Genossen einen mit 107 Unterschriften besetzten Antrag auf eine geheime Versammlung ein. Emin Bey begründete dies folgendermaßen:

„Es fanden dort unfassbare Grausamkeiten statt. Es gefriert einem das Blut in den Adern. Genossen, diese Grausamkeit und Katastrophe wird im Namen der Nationalversammlung verübt. Dies in die Öffentlichkeit zu tragen hätte katastrophale Folgen. Daher möchten wir diese Versammlung geheim abhalten.“

Nurettin Paşa wird von den nachfolgenden Rednern für seine Deportationspolitik und die Haltung gegenüber den Koçgiri Ereignissen heftig kritisiert und man fordert seinen Rücktritt. Daraufhin tritt Mustafa Kemal Paşa ans Pult:

„Bezüglich gesetzeswidriger Aktivitäten und Manöver seitens Nurettin Paşa (...) Ich habe begonnen dies auf eigene Faust zu untersuchen. Dementsprechend habe ich einige Ansichten hierzu. Ich bin nicht der Ansicht, dass er abgesetzt werden sollte.“

Am 05.Oktober 1921 wurde Nurettin Paşa seines Amtes enthoben und sollte in Ankara vor Gericht gebracht werden. Nurettin Paşa ersuchte Hilfe bei Mustafa Kemal Paşa.

Mustafa Kemal Paşa setzte sich mit folgenden Worten für Nurettin Paşa ein: „Die Strafe für ihn ist ein wenig zu hoch.“ Und verlangte die Einberufung einer Untersuchungskommission. Daraufhin fragte Emin Bey Kemal Paşa warum er denke, dass die Strafe zu hoch sei. Die Antwort von Mustafa Kemal Paşa: „Macht was ihr für richtig haltet.“

Wenn man vom Koçgiri Massaker spricht und liest, tauchen immer wieder die Namen Topal Osman und Sakallı Nurettin Paşa auf. Wer waren diese Personen eigentlich?

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Nurettin Paşa (1873 – 1932)

 

Nurettin Paşa hatte schon in einigen Kriegen aktiv gekämpft: 1897 Osmanen-Griechen Krieg, Balkan Krieg, 1.Weltkrieg, Nationaler Befreiungskampf der Türken (Kurtuluş Savaşı) und Ende 1920 beteiligte er sich an den Pontus-Massakern in Amasya. Militärische Brutalität zeigte bereits sein Vater Marshall Ibrahim Paşa. Dieser leitete 1907 einen Militärschlag gegen die Dersimer. Interessant und kein Zufall ist, dass der Großenkel kein anderer war als General Abdullah Alpdoğan, der von Atatürk für die Koordination der militärischen Aktionen in Dersim eingesetzt wurde. Er bekam Sonderrechte und konnte in der Dersim Region schalten und walten wie er wollte. Er hatte sozusagen die Lizenz zum Töten bekommen.

Nurettin Paşa gehört auch dieser berühmte Ausspruch, der die damalige Geisteshaltung der türkistisch-rassistischen Militärbourgeoisie sehr gut widerspiegelte:

„In der Türkei haben wir die „ZO“ Rufenden (die Griechen LM) eliminiert. Die „LO“ Rufenden werde ICH ausrotten!“

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Topal Osman (1883 – 1923)

 

Eine weitere Figur ist Hinkefuß Osman. Ein Söldner und Bandit georgischer Abstammung, der sich 1912 als freiwilliger am Balkan Krieg beteiligte und am Armenier Genozid aktiv beteiligt war. Sein Eintreten in die Geschichte beginnt, als er 1915 mit seiner 100 köpfigen Bande 150 Häftlinge aus einem Gefängnis in Trabzon befreit und seine Bande dadurch weiter vergrößert. Diese Bande von gesetzeslosen Söldnern kannte man unter dem Namen: Giresun Uşakları. Topal Osman und seine Bande wurden im November 1920 zur offiziellen Leibgarde Mustafa Kemal Paşas. Topal Osman galt als ein erbarmungsloser Plünderer, Räuber und Mörder. In einigen Kreisen nimmt man ihn auch als inoffiziellen Handlanger Mustafa Kemal Paşas wahr, der Kritiker und unangenehme Oppositionelle ausschalten und beseitigen sollte.

Ich möchte meinen Vortrag mit folgendem (gekürzten) Zitat beenden:

"Die Erinnerung ist wie das Wasser: Sie ist lebensnotwendig und sie sucht sich ihre eigenen Wege in neue Räume und zu anderen Menschen. Sie ist immer konkret: Sie hat Gesichter vor Augen, und Orte, Gerüche und Geräusche. Sie hat kein Verfallsdatum und sie ist nicht per Beschluß für bearbeitet oder für beendet zu erklären. Auch deshalb wollen wir als Opfer und sollen wir als Opfer nicht vergessen werden. Auch die heutige und die zukünftige Welt müssen wissen, wie das Unrecht, die Sklaverei der Zwangsarbeit und der Massenmord organisiert wurden und wer die Verantwortlichen dafür waren. Dies soll immer wieder dokumentiert und den jungen Menschen erklärt werden: Zur Erinnerung an uns und unsere ermordeten Angehörigen und zu ihrem Schutz in ihrer Zukunft.“

Noach Flug

1925-2011, Auschwitz-Überlebender und Präsident des IAK