Schikane gegen Alevit_innen bei Wahlen in der Türkei

Turgut Öker war in der Zeit zwischen 1999 und 2012 Bundesvorsitzender der Alevitischen Gemeinde Deutschland e.V. (Abgekürzt AABF), deren Ehrenvorsitzender er aktuell ist. In dieser Zeit lebte er in Köln. Er besitzt die deutsche und die türkische Staatsbürgerschaft. In der AABF sind laut Eigenangabe knapp 255.000 bis 275.000 Alevit_innen organisiert. In die Amtszeit Ökers fiel unter anderem die Anerkennung der Alevitischen Gemeinde als Religionsgemeinschaft und die Einführung des alevitischen Religionsunterrichts in mehreren Bundesländern. Mit europaweitem Mandat aus den alevitischen Kulturgemeinden kandidierte Öker erstmalig am 7. Juni 2015 innerhalb der linkspolitischen „Demokratischen Partei der Völker“ (kurz: HDP, türkisch: „Halkların Demokratik Partisi“) für die Große Nationalversammlung der Türkei und zog zunächst auch in das Parlament ein. Nachdem keine Regierungsbildung möglich war, erfolgte auf Bestreben der Regierungspartei im November 2015 eine Neuwahl, bei der Öker der erneute Einzug ins Parlament nicht mehr gelang.

 

turgut oeker bdaj nrw

Für die kommenden Parlamentswahlen in der Türkei am 24. Juni 2018 wurde Öker zunächst erneut für die HDP auf einem sehr aussichtsreichen Listenplatz in Istanbul aufgestellt. Mit Meldung vom 26. Mai 2018 erklärte die türkische Oberste Wahlaufsichtsbehörde allerdings, dass Öker aufgrund eines „Strafeintrags wegen Beleidigung des türkischen Präsidenten Erdoğan“ nicht zur Wahl antreten darf. Dieser Strafeintrag geht auf eine Rede Ökers während einer Gedenkveranstaltung in der osttürkischen Stadt Kahramanmaraş zurück. In seiner Rede bezeichnete Öker den türkischen Präsidenten als „Yezid der heutigen Zeit an dessen Händen Blut klebt“. Damit spielt er auf eine Schlacht in der frühen Entstehungsgeschichte des Islams an, in der der Kalif Abū Chālid Yazīd ibn Muʿāwiya (im Türkischen kurz: Yezid) den Enkel des Propheten Mohammed Hüseyin und seine Gefolgsleute massakrierte. Der Name „Yezid“ steht für die Alevit_innen sinnbildlich für „das Böse“. Am ehesten kann er mit der Bezeichnung „Faschist“ oder „Tyrann“ übersetzt werden. Öker und seine Anwälte argumentieren mit dem Recht auf Meinungsfreiheit und sehen in dem Ausschluss von den Wahlen mit einen Versuch dafür, die alevitische Glaubensgemeinschaft vom politischen Beteiligungsprozess auszugrenzen.

 

Der Standpunkt Ökers wird insbesondere dadurch bekräftigt, dass das ihn verurteilende Gericht auf Anfrage der Anwälte darauf hinweist, dass gegen ihn derzeit kein Eintrag „Eingrenzung seiner Bürgerrechte“ vorliegt. Die Anwälte sehen deshalb keine ausreichende Handhabe dafür, Öker das passive Wahlrecht zu entziehen. Ein Einspruch ihrerseits bei der Obersten Wahlaufsichtsbehörde blieb indes erfolglos. Mit Hinblick darauf, dass es sich bei den Alevit_innen um die zweitgrößte Religionsgemeinschaft der Türkei handelt, der allerdings weiterhin fundamentale Grundrechte verwehrt werden, ist der Ausschluss Turgut Ökers von den Wahlen als ein deutlicher und weiterer kontraproduktiver Schritt hinsichtlich der Demokratisierung der Türkei zu werten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bestätigte die strukturelle Diskriminierung der alevitischen Glaubensgemeinschaft in mehreren Urteilen und forderte die Türkei zu Besserung auf. Mit der aktuellen Wahlschikane entfernt sich die Türkei von der Erfüllung der Koppenhagener Kriterien, welche schlussendlich maßgeblich für die Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union sind. In Anbetracht der Tatsache, dass im Juni auch wieder in Deutschland Wahllokale für die türkischen Wahlen organisiert werden, stellt der Ausschluss des unmittelbaren Vertreters der Menschen alevitischen Glaubens für die Parlamentswahlen auch eine besondere Einschränkung der demokratischen Grundrechte der türkischen Staatsbürger_innen in Deutschland dar. Sie können ihren organisationsintern bestimmten Kandidaten nicht mehr wählen und als ihren Repräsentanten in das Parlament nach Ankara entsenden.

 

Auf den Wahlausschuss reagierte die Alevitische Union in Europa durch die Ersatzkandidatur ihres schwedischen Vertreters Zeynel Özen. Dieser hat den Platz Ökers auf der Wahlliste der HDP zugeteilt bekommen.